Wie das Mittelalter unser Denken bestimmt - Gespräch mit dem Philosophen Jonas Narchi
Leistungs- und Grundkurs Philosophie 12 besuchen die Universität Heidelberg — 11.07.2022
von Achim Jung
Zum Abschluss des Schuljahres unternahmen einige Philosophinnen und Philosophen aus dem Leistungs- und Grundkurs Philosophie der 12. Jahrgangsstufe zusammen mit ihrem Philosophielehrer Achim Jung eine Exkursion an das Philosophische Seminar der Universität Heidelberg. Da hier einige Größen der Philosophiegeschichte, wie z. B. Hans-Georg Gadamer oder Karl Jaspers, gelehrt haben, hat das Philosophische Seminar wie allgemein die Universität Heidelberg einen guten Ruf. Die Stadt bot sich den angehenden AbiturientInnen aus Landstuhl beim Spaziergang durch die historische Altstadt, wo sich die Universität befindet, mit ihrer romantischen und malerischen Kulisse geradezu als zukünftiger Studienort an. Die Philosophiekurse waren von dem Philosophen Jonas Narchi eingeladen worden, der an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften als Forscher in der Forschungsstelle „Klöster im Hochmittelalter arbeitet. Der Wissenschaftler begrüßte die NachwuchsphilosophInnen im Kant-Saal der Universität, einem traditionsreichen Seminarraum mit Blick auf das Heidelberger Schloss, in dem schon so manche/-r bedeutende/-r Philosoph/-in gelehrt hat.
Jonas Narchi stellte in einem kurzen Vortrag seine Tätigkeit als Forscher und sein Forschungsgebiet vor. In einem anschließenden Gespräch hatten die SchülerInnen reichlich Gelegenheit für Fragen. Anschließend informierte die Studienberaterin Monika Obermeier über das Philosophiestudium an der Universität Heidelberg. Für das Fach Philosophie gibt es keinen Numerus Clausus, was sehr überraschend ist, da es Heidelberg, was das internationale Renommee angeht, mit Oxford oder Cambridge aufnehmen kann und nicht zuletzt, weil das Studium kostenlos ist.
Danach konnten die Schülerinnen und Schüler bei dem Seminar des Privatdozenten Dr. Manfred Harth zum Thema bzw. über den Text „Is there a single true morality“ von dem zeitgenössischen amerikanischen Philosophen Gilbert Harman teilnehmen. Auf diese Weise lernten die Schülerinnen und Schüler einen wichtigen Bereich der Gegenwartsphilosophie kennen, die analytische Philosophie aus den USA. Zur Vorbereitung des Seminars waren zentrale Ausschnitte aus dem Text vorher im Unterricht besprochen worden. Behandelt wurde der sehr aktuelle Text zur Moralphilosophie in englischer Sprache, da das Werk, aus dem dieser entnommen wurde, nicht ins Deutsche übersetzt ist. Dabei wurde den Schülerinnen und Schülern auch die Bedeutung der Fremdsprachen im Studium deutlich, denn nicht zuletzt ist die Beherrschung von zwei lebenden Fremdsprachen sowie einer klassischen Sprache, wie Griechisch oder Latein, Voraussetzung des Masterstudiengangs Philosophie. Die Sprachkenntnisse können auch noch während des Studiums in dafür eingerichteten Kursen erworben werden. Für das Lehramt ist Latein je nach Bundesland inzwischen meist nicht mehr notwendig. Es gibt an den Universitäten auch Fächer mit verpflichtenden Lehrveranstaltungen in englischer Sprache, dies allerdings vor allem in den Naturwissenschaften.
Der Kant-Saal des Philosophischen Seminars mit Jonas Narchi in der Mitte und der Studienberaterin Monika Obermeier rechts. Im Fenster sieht man das Heidelberger Schloss.
Vor dem Beginn des Philosophieseminars von PD Dr. Manfred Harth war noch eine halbe Stunde Zeit, um sich mit den PhilosophiestudentInnen, die daran teilnahmen, zu unterhalten. Diese berichteten aus ihrem Studienalltag und vom Studentenleben in Heidelberg. Etwas Sorgen machten sie sich über ihre zukünftigen beruflichen Perspektiven mit einem Studienabschluss in Philosophie. Die Studienberaterin Monika Obermeier, die an dem Gespräch teilnahm, wies auf die vielfältigen Karrieremöglichkeiten hin, die sich für AbsolventInnen eines Philosophiestudiengangs eröffneten. Die enorme Freiheit, die die Studenten auch nach ihrem Studienabschluss der Philosophie bei der Berufswahl noch hätten, habe leider die negative Kehrseite, dass es während des Studiums ganz unsicher erscheine, wohin die berufliche Reise gehe. Die Erfahrungen ehemaliger AbsolventInnen zeigten, dass diese in den meisten Fällen eine oft sehr ungewöhnliche Karriere machten, ob bei einem großen Konzern, in der Politik- oder Wirtschaftsberatung, als Selbstständige oder mit einer weiteren beruflichen Ausbildung, zum Beispiel als InformatikerIn oder als DatenanalystIn, aufbauend auf ein dann intensiveres Studium der philosophischen Logik, auf die ja die Computersprachen zurückgehen.
Für die Schülerinnen und Schüler war bei der Exkursion vor allem der Vortrag von Jonas Narchi aufschlussreich, da er ihnen tatsächlich einen lebendigen Einblick in die Arbeit eines forschenden Philosophen geben konnte. Mit seinen Forschungen erschließt Jonas Narchi aus mittelalterlichen Texten, die meist in lateinischer Sprache geschrieben sind, welche philosophischen und theologischen Weltdeutungen und welche Ordnungsvorstellungen das Denken der Menschen im Mittelalter bestimmten. Einen besonderen Fokus richtet er dabei auf die Schriften von Joachim von Fiori, einem Abt und Ordensgründer, der im 12. Jahrhundert lebte, und sich mit einigem fanatischen Eifer für eine Erneuerung und eine Reform der mittelalterlichen katholischen Kirche einsetzte, insbesondere für eine strenge und fundamentalistische Einhaltung der religiösen Regeln und eine stärkere Orientierung des Lebens an der Heiligen Schrift. Bedeutsam und einflussreich war vor allem seine allegorische, das heißt sinnbildliche Auslegung der Bibel, insbesondere der Offenbarung Johannis. Dabei vertrat er die Auffassung, dass man aus der Bibel den tatsächlich Verlauf der Geschichte der Welt herauslesen und vor allem vorhersehen könne. Diese habe drei Zeitalter, wobei das letzte mit der Wiederkunft Christi in der Apokalypse, das heißt dem Jüngsten Gericht und dem Untergang der diesseitgen Welt ende. Dabei interpretiert Fiori den Verlauf der Geschichte als eine Abfolge historischer Fortschritte. Während alle Philosophen vorher das Goldene Zeitalter in der Vergangenheit ausmachten, z.B. der für die Entstehung des Christentums und auch des Islam sehr einflussreiche Philosoph Platon, in dem untergegangenen mythischen Atlantis, entwickelt Fiori einen modern erscheinenden historischen Fortschrittsbegriff, so wie er heute noch verstanden wird als eine unaufhaltsame Entwicklung hin zu einer besseren Zukunft. Dieses Fortschrittsdenken beeinflusste in der Folge viele Philosophen der Aufklärung und vor allem im 19. Jahrhundert Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Karl Marx, wobei des letzteren Idee des Kommunismus als „Ende der Geschichte“ daher eigentlich kurioserweise auf die Uminterpretation einer fundamentalischen mittelalterlichen Weltdeutung und Bibelauslegung zurückgeht.
Bemerkenswert ist, dass in der christlichen Vorstellung die Errichtung des Reiches Gottes als Sinn der Schöpfung mit der Vernichtung der diesseitigen Welt verbunden ist, weil dann alles irdische Leiden endet und das göttliche Heilsversprechen sich erfüllt. Erschreckenderweise scheint nun die Fortschrittsgläubigkeit tatsächlich zur wirklichen physischen Zerstörung der Umwelt und der Natur zu führen. Der Bezug zum Religiösen ist allerdings verloren gegangen, da sehr viele Menschen kaum noch ein Verständnis von Religion haben, also auch nicht mehr an einen metaphysischen Sinn, ein letztes Ziel der Menschheit, glauben. Geblieben ist dagegen eine gewisse Gelassenheit und Gleichgültigkeit gegenüber den Zerstörungen, deren ursprünglicher Grund das Gottvertrauen und der Glaube an die Liebe Gottes waren, was jedoch nunmehr durch einen blinden Glauben an den technischen Fortschritt ersetzt ist.
Ausdruck dieses Forschritts wurde zunehmend der Konsum, der seinen Sinn in sich selbst zu haben scheint und die von Marx postulierte Vorstellung, dass die Produktivkräfte immer weiter wachsen müssen, wobei dieser selbst nicht erklären konnte, warum eigentlich. Der Fortschritt folgt der von Marx, aber auch von Mephistopheles in Goethes "Faust" vertretenen Dialektik, dass erst das Bestehende zerstört werden müsse, damit Neues und Besseres entstehe. Dass Goethe den Teufel dies sagen lässt, zeigt die fragwürdige Ambivalenz dieser Haltung, die nicht anders als kritisch zu beurteilen ist, zumal das "Bessere" für Mephisto das Nichts ist: "Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrundegeht." Diese Denkweise wird in der Moderne als "Nihilismus" bezeichnet.
Je mehr zerstört wird, um so mehr Ressourcen und Produktivkräfte müssen aufgebracht werden, um aus dem und anstelle des Zerstörten Neues und vermeintlich Besseres zu schaffen. Die materiellen Ressoucen der Erde sind jedoch begrenzt und werden sich irgendwann erschöpfen und es wird vielleicht wirklich "Nichts" übrigbleiben, wenn kein Umdenken darüber stattfindet, was der Sinn des Ganzen ist und dass es neben den irdischen auch geistiger Ressourcen bedarf, die unzerstörbar sind. Das heißt, die Bildung kann "Fortschritte" ermöglichen, die nicht auf Zerstörung und Konsum basieren, sondern auf einem besseren Verstehen dessen, was Menschen bisher gedacht haben, denn darauf beruht unser eigenes Denken. Wenn dagegen die Texte nicht mehr gelesen und das vormals Gedachte vergessen wird, besteht die Gefahr, dass wir unser eigenes Denken nicht mehr verstehen und uns von der Kultur, das heißt den Hervorbringungen des Denkens, entfremden.
Indem Jonas Narchi Quellen, Gründe und Auswirkungen des mittelalterlichen Denkens offenlegt, deckt er vergessene Ursprünge und Motive des modernen Denkens auf und zeigt außerdem, wie „modern“ das Mittelalter oder wie "mittelalterlich" die Moderne gewesen ist. Dies kann uns helfen, unser eigenes Denken und unsere Begriffe besser zu verstehen und sie in einer reflektierten Weise verwenden zu lernen.
Zu der Einladung ans Philosophische Seminar kam es, da Mara Berberich aus dem Leistungskurs Philosophie im Frühjahr in Dresden an einer Philosophietagung für Schülerinnen und Schüler teilgenommen hatte und dort Jonas Narchi begegnet ist, der als Dozent einen Vortrag gehalten hatte. Als dieser von dem Leistungskurs Philosophie in Landstuhl hörte, welcher der einzige in Rheinland-Pfalz ist, lud er diesen kurzerhand nach Heidelberg ein. Mara Berberich nimmt an dem vom Bundesministerium für Verteidigung und von der Stiftung politische und christliche Jugendbildung e.V. finanzierten Begabtenförderungsprogramm „Young Leaders“ teil. Im Rahmen dieses Förderprogramms konnte sie im Verlauf des Schuljahrs an mehreren Philosophietagungen, unter anderem auch am Nixdorf Institut in Paderborn, teilnehmen, die trotz Corona in Präsenz stattfinden konnten.
Der Leistungskurs Philosophie wird 2023 das Abitur ablegen. In den beiden darauffolgenden Jahrgängen ist kein Kurs zustandegekommen aufgrund widriger Umstände, nicht zuletzt auch wegen der Pandemie. Die SchülerInnen des Landstuhler Leistungskurses Philosophie sind daher nun die einzigen und sehr wahrscheinlich für mindestens zwei Jahre auch die letzten LeistungskursschülerInnen in ganz Rheinland-Pfalz.
Internetseite von Jonas Narchi bei der Heidelberger Akademie der Wissenschaften