Die Befreiung aus der Höhle - Deutsch-Französische Videokonferenz über Platon
Virtuelle Begegnung des Philosophie-Leistungskurses mit französischer Philosophieklasse — 02.02.2022
von Achim Jung
In Platons berühmtem Höhlengleichnis sitzen Gefangene, die gefesselt sind und ihre Köpfe nicht drehen können, vor einer Wand, an die von einem Feuer angeleuchtete Gegenstände projiziert werden. Ein Gefangener wird befreit und gezwungen, sich mit vieler Mühe und unter großem Sträuben der Realität außerhalb der Höhle zu stellen, wo er herausfindet, dass er bisher nur Bilder gesehen hat, nicht jedoch die Wirklichkeit der Dinge. Er kommt aus der beschränkten Unmittelbarkeit einer rein sinnlichen Welterfahrung plötzlich in die weite Welt des Denkens und der Vernunft. An dieses berühmte Gedankenexperiment, das zugleich Thema der Konferenz war, erinnerte die Unterrichtssituation im Leistungskurs Philosophie der Jahrgangsstufe 12 anlässlich einer Videokonferenz mit einer französischen Philosophieklasse vom Deutsch-Französischen Gymnasium in Buc bei Versailles. Die beiden Philosophiekurse sahen die jeweils andere Lerngruppe, die sich in ca. 500km Entfernung im Nachbarland befand, in einem per Beamer projizierten Bild an der Wand des Klassenraums.
Beide Kurse hatten den platonischen Dialog „Der Staat“ im ersten Halbjahr als Unterrichtslektüre gelesen, so dass ein gemeinsamer Austausch über Platons Philosophie möglich und naheliegend war. Durch gemeinsames Philosophieren versuchten die Schülerinnen und Schüler, zu einer Verständigung über die Bedeutung des Gleichnisses zu gelangen. Das gemeinsame Denken im philosophischen Gespräch ermöglichte es ihnen, die Beschränktheit des Eindrucks, den die Videoübertragung nur erlaubte, zu überwinden und etwas darüber zu erfahren, was die Schülerinnen und Schüler im Nachbarland meinen und denken. Das war auch deshalb möglich, da die französischen Schülerinnen und Schüler vom Lycée Franco-Allemand exzellent Deutsch sprechen, denn ihr Unterricht findet durchweg bilingual in Französisch und Deutsch statt.
Vor der Coronakrise gab es mehrere gemeinsame Projektwochen von Philosophiekursen beider Gymnasium in Frankreich und Deutschland, bei denen die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit bekamen, gemeinsam über Themen wie Freiheit oder Sprache zu philosophieren. Der Austausch wurde von den Philosophielehrkräften Christine Martin aus Versailles und Achim Jung aus Landstuhl initiiert. Sobald die Pandemie beeendet ist, ist auch wieder eine richtige Begegnung mit einer Projektwoche geplant, die dann vom Deutsch-Französischen Jugendwerk gefördert würde. Ob sich diese beiden Kurse werden treffen können, ist im Moment fraglich, da die französische Gruppe schon in wenigen Monaten das Abitur ablegen wird. In Frankreich ist Philosophie Hauptfach und schriftliches Prüfungsfach im Abitur für alle Schülerinnen und Schüler, während Landstuhl die einzige Schule in Rheinland-Pfalz ist, an der Philosophie in der Oberstufe nicht nur als Grund-, sondern auch als Hauptfach gewählt werden kann.
Während im ersten Teil der Videokonferenz die philosophische Deutung und das Verständnis des Gleichnisses im Mittelpunkt des Austauschs standen, setzten sich die Schülerinnen und Schüler im zweiten Teil mit dem Bildungsbegriff Platons auseinander. Mit dem Gleichnis erklärt Platon nämlich vor allem, welche Bildung die Herrscher eines Staates haben sollten, um gut und gerecht regieren zu können. Dabei geht es in Platons Werk „Der Staat“ auch darum, wie die Kinder allgemein zu erziehen und zu bilden seien. Platon trat dafür ein, dass alle Kinder die Möglichkeit haben sollten, Zugang zu einer höheren Bildung zu bekommen, ganz unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht und dass jeder durch Bildung dahin gelangen kann, die höchsten Aufgaben im Staat übernehmen zu können. Allerdings meint Platon, dass es nur einer Eilite vorbehalten ist, den höchsten Grad an Bildung zu erreichen. Das sollten, nach Platon, die erfolgreichen AbsolventInnen der platonischen Akademie sein, die in einer Turnhalle unterbracht war und deshalb "Gymnasium" genannt wurde. Damit vertrat Platon eine zwar ziemlich elitäre, aber auch sehr aktuell anmutende Bildungspolitik, denn sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ist die Frage der Bildungsgerechtigkeit Gegenstand aktueller politischer Diskussionen. Allzu häufig haben in beiden Ländern Herkunft, Wohlstand und Geschlecht einen prägenden Einfluss auf die Bildungskarriere. Viele Talente bleiben daher ungenutzt. Es wurde darüber diskutiert, wie es zu dieser Bildungsungerechtigkeit kommt und ob die offenbar ungerechten Bedingungen, die den Zugang zur Bildung für viele Kinder erschweren, hingenommen werden müssen und was man endlich dagegen tun könnte. Die platonische Aufassung, dass die höchste Bildung am Ende nur einer Elite zukommen sollte, wird heute dagegen sehr kritisch gesehen.
Aus der Sicht Platons habe derjenige, der die Höhle verlassen konnte, die Pflicht und die Aufgabe, die anderen Gefangenen zu befreien und ihnen die Vernunft und das Denken, das heißt Bildung, näherzubringen. Das ist nach Platon die Aufgabe der Philosophie, wobei die Griechen darunter die Gesamtheit der Wissenschaften verstanden und der Verlauf der Videokonferenz zeigte, dass Hoffnung besteht, dass der eine oder die andere diese Aufgabe eines wissenschaftlichen Studiums annimmt, um zum Beispiel PhilosophielehrerIn zu werden, was schon einige Ehemalige beider Gymnasien tatsächlich in die Tat umgesetzt haben. Am SGL gibt es sogar gleich drei Ehemalige, die inzwischen Philosophielehrerinnen an der eigenen Schule geworden sind.