Einmal Nazi, immer Nazi?
Ein Aussteiger berichtet ... Christian Weißgerber zu Besuch am SGL — 07.02.2020
Christian Weißgerber in der Aula im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern, im Hintergrund "Nazi Zombies" aus einem bei Jugendlichen beliebten Computerspiel
von Mason Lebron (MSS 12)
Am Mittwoch, den 05.02.2020, besuchte der ehemalige Neo-Nazi und Autor des Buchs „Mein Vaterland: Warum ich ein Neo-Nazi war.“ das Sickingen-Gymnasium und hielt einen Gastvortrag über seinen Radikalisierungsprozess zum Neo-Nazi. Christian Weißgerber war auch Führer einer nationalsozialistischen Jugendgruppe und ist 2010 aus der Nazi-Szene ausgestiegen. Schülerinnen und Schüler der 10. Klasse und der Leistungskurse Geschichte und Sozialkunde 11, 12 und 13 hatten die Möglichkeit, den von den Geschichtslehrkräften Ludmilla Forsch und Björn Freudenberg organisierten Vortrag zu besuchen und selbst kritische Fragen an Christian Weißgerber zu stellen.
Wie wird man Neo-Nazi? Warum wird man Nazi? Diese und weitere Fragen versuchte Weißgerber durch die Schilderung seines persönlichen Politisierungs- und Radikalisierungsprozesses zu beantworten. Der Vortrag begann mit einer autobiographischen Einführung. Weißgerber, der in Eisenach in Ostdeutschland geboren und aufgewachsen ist, stammt aus einem schwierigen Elternhaus. Von klein auf trichterte ihm sein Vater den Unterschied zwischen „Ossis“ und „Wessis“ ein. Er gehörte, wie er ironisch anmerkte, zu den arbeitssamen und ehrlichen „Ossis“, die sich gegen die faulen „Wessis“ durchsetzen mussten. Diese Unterteilung der Menschen in gut und böse, faul und arbeitsam hat sich tief bei ihm eingebrannt und ließ sich auf das nationalistische Weltbild übertragen. Weißgerber betont das tiefe Ursachengeflecht, das zur Hinwendung zum Nationalsozialismus beigetragen hat. Rekruten des wiederaufkommenden Nationalsozialismus könnten jedoch aus allen Bevölkerungsgruppen und Schichten stammen.
Weißgerber gibt zu, große Faszination und Neugier für den historischen Nationalsozialismus gehabt zu haben, da diese Ideologie in seinem Umkreis als Tabu-Thema betrachtet wurde. Durch Recherchen und geschichtsrevisionistische Werke entwickelte sich ein stolzes Gefühl, von Geburt an zu „den Deutschen“ zu gehören, Teil der „deutschen Dichter und Denker“ mit angeborenem „deutschen Erfindergeist“ zu sein. In der Pubertät hatte Weißgerber das Gefühl, eine bestimmte „Macht“ zu besitzen, wenn er von anderen gefürchtet und als „Monster“ bzw. als Nazi angesehen wurde.
Jedoch betont Christian Weißgerber ganz deutlich: „Es gibt kein Abdriften oder Abrutschen in die Nazi-Szene. Menschen entscheiden sich aktiv für den Nationalsozialismus.“ Dass sie dadurch für andere als „Monster“ erscheinen, ist für sie kein Makel, sondern gibt ihnen im Gegenteil Selbstbewusstsein.
Später wurde aus dem Stolz auf „sein“ Vaterland Nationalismus. Er befürchtete, dass das „tolle deutsche Kollektiv“ durch sinkende Bevölkerungszahlen und den demographischen Wandel am Ende aussterben könnte. Er hoffte, durch die Gründung einer neo-nationalsozialistischen Jugendgruppe, dem „Pakt Volkstreuer Jugend“, eine Revolution bzw. einen gesellschaftlichen Umsturz auszulösen. Aufgrund des Scheiterns des Aufbaus einer autoritär geführten Organisation zerfiel diese Splitterorganisation aber nach relativ kurzer Zeit, da die Mitglieder Schwierigkeiten damit hatten, sich Autoritäten unterzuordnen.
Besonders interessant war zu hören, dass Neo-Nazis einen „Bildungsprozess“ durchlaufen, bei dem sie sich Strukturen, Verhaltensweisen und eine gewisse "Etikette" aneignen. Sie organisierten Konzerte, um sich unauffällig in der Öffentlichkeit zu versammeln und ihre Ideen auszutauschen.
Was Rassismus und Fremdenfeindlichkeit angeht, versuchte Christian Weißgerber seinen damaligen Gedankengang plausibel zu erklären. Er sah sich früher nicht als Rassisten, sondern als Verteidiger der deutschen Kultur, wie es auch heute einige in Medien zu verstehen geben. Aus heutiger Sicht ist das aber genau das gleiche, nur dass man versucht, seinen offenkundigen Rassismus in bessere Formulierungen zu verpacken.
Im Schlussteil beschrieb der Referent den Ausstiegsprozess und die Schwierigkeit, Automatismen, was etwa die Haltung zu Ausländern angeht, die er sich über Jahre hinweg angeeignet hatte, abzulegen.
Heute hält Weißgerber viele Gastvorträge in ganz Deutschland in der Hoffnung, Menschen aufzuklären. Er weiß, dass er mitverantwortlich für die Radikalisierung vieler Personen in der Zeit des Bestehens seiner Jugendorganisation ist. Jedoch betont Christian Weißgerber heute, dass wir alle eine Verantwortung tragen, gegen radikale Politik und Bewegungen vorzugehen („Ihr schafft die Gesellschaft, in der ihr leben wollt! Ihr müsst dafür die Verantwortung übernehmen!“).
Insgesamt war der Dialog mit Christian Weißgerber sehr interessant und aufschlussreich. Das Thema der wiederaufkommenden Neo-Nazi-Szene ist heute von großer Bedeutung, wie Ereignisse des letzten Jahres, z.B. in Chemnitz, zeigten. So kann man sagen, dass die Aufklärungsarbeit, die Christian Weißgerber und andere leisten, von äußerster Wichtigkeit ist.