„Wir waren entmündigte Bürger“
Zeitzeugin Barbara Große erzählt den 10. Klassen des SGL von ihrem Leben in der DDR — 15.05.2018
Der 2. Stellvertretende Schulleiter Dominik Hauer überreicht Barbara Große zum Dank ein Geschenk -
von Anna Weller, 10d
Frau Große beginnt mit einer Beschreibung der DDR und bezeichnet den sozialistischen Staat als „miese, menschenverachtende Diktatur.“ Für Barbara Große war die DDR ein riesiges Gefängnis und das Lebensgefühl glich einer ständigen geistigen Enge. Jede aufkommende Opposition wurde sofort im Keim erstickt. Die „Aktion Ungeziefer“ diente ihr als Beispiel. Menschen, die als unzuverlässig galten, wurden mitten in der Nacht aus dem Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze geweckt und aus ihren Häusern gezwungen, die teilweise gesprengt oder von systemkonformen Bürgern besetzt wurden.
Nach dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“, der einzigen Mauer der Welt, die gegen die eigene Bevölkerung erbaut wurde, blieb Berlin das letzte Schlupfloch in den Westen, doch viele der gebauten Fluchttunnel wurden von den Spitzeln und der Regierung entdeckt.
„Die DDR war ein Staat, der alles überwachen musste.“ Die Erziehung zum Hass gegen den Westen sei für die Lehrer zum obersten Gebot erhoben worden. Barbara Große verbrachte ihre gesamte Kindheit in der DDR. Als Scheidungskind wurde sie von ihrer Mutter und den Großeltern christlich erzogen, was im sozialistischen Staat nicht gern gesehen wurde. Das Regime wollte alles regeln und so wurden sogar die Konfirmationssprüche von oben diktiert. Frau Große bekam den Spruch „Mit meinem Gott kann ich über die Mauer springen“ zugewiesen, was sie, aus heutiger Perspektive, recht passend fand.
Sie hielt sich weitestgehend von kommunistischen Jugendverbänden, wie der FDJ, fern, doch nach der neunten Klasse blieb ihr, sofern sie sich die Zukunft nicht vollkommen verbauen wollte, nichts anderes übrig als der Freien Deutschen Jugend beizutreten, um das Abitur machen zu dürfen. Anschließend machte sie eine Ausbildung zur Tontechnikerin und übte diesen Beruf bis zu ihrer Verhaftung aus.
Die tatsächliche Enge des Sozialismus wurde Große allerdings erst bewusst als sie nach großen Mühen und Umwegen mit ihrem Mann Urlaub in Ungarn machte, wo sie holländische Freunde kennenlernten, die sie auch des Öfteren in der DDR besuchten. Erst durch Gespräche mit diesen wurde ihnen ihre Lebenssituation wirklich bewusst und nach der Geburt der beiden Kinder wurde ihnen klar: „Wir können hier nicht mehr leben.“
Eine wesentliche Rolle spielte die düstere Aussicht, dass ihr Sohn als junger Erwachsener zum Wehr-dienst verpflichtet worden wäre. Sie wollte ihren Sohn nicht zum Mörder machen und stellten einen Ausreiseantrag. Ausreiseantragstellern machte man das Leben allerdings nicht leicht und so wurden sowohl sie selbst im Beruf als auch ihre Kinder in der Schule systematisch benachteiligt. Damals begann auch die extreme Bewachung durch die Stasi. Über 3000 Seiten umfasst ihre Akte, in denen ihr der Deckname „Studio“ gegeben wurde.
Als dann schließlich die Männer von der Stasi kamen, „wie Nazis in schwarzen Lederklamotten und mit unfreundlichen Gesichtern“, dachte sie an die lang ersehnte Ausreise, doch stattdessen führte man sie ab und brachte sie in U-Haft. Das Weinen ihrer Tochter an diesem Tag wird Große wohl niemals wieder vergessen, betont sie.
Als Große der Prozess gemacht wurde, machte ihr der Anwalt von Beginn an bewusst, sie solle kein Wort sagen. Doch als die Staatsanwältin sie als Abschaum bezeichnete und betonte, dass sie auch im Westen nur in der Gosse landen würde, habe sie sich erhoben, um zu sagen: „Besser eine kapitalistische als eine sozialistische Gosse.“
Man verurteilte sie zu 30 Monaten Haft und brachte sie ins „Zuchthaus Hohenecken“.
Die schlechten Bedingungen dort, so Große, wünschte sie nicht einmal den 80 Prozent Kindermördern, die sich mit ihr das Gefängnis teilten.
Schließlich wurde Große als eine von insgesamt 33755 Häftlingen für 100 DM vom Westen freigekauft. „Ich bin völlig unter meinem Wert verkauft worden!“, meint sie mit einem Lachen.
Als sie in Gießen ankam, sei ihre erste Tat gewesen, ein Fenster zu öffnen und zu atmen. Sie nahm eine Stelle im Südwestfunk in Mainz an, wo sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2005 arbeitete. Dort habe sie gemerkt: „Das hier ist Demokratie, das ist Freiheit“.
Auch wenn sie bis heute weder den Humor, noch ihre Lebenslust verloren hat, hat die Zeit im Gefäng-nis Spuren hinterlassen.
Viele ihre Mithäftlinge starben um das Jahr 2000 an den Folgen der radioaktiven Bestrahlung, die man ihnen dort zuführte. Große selbst erkrankte an Brustkrebs.
Mit den Worten „Ich bin jeden Tag froh, dass ich in einer Demokratie lebe“, beendete sie ihren Vortrag, dem die Schüler gespannt und stillschweigend folgten.