Das Logo des Sickingen-Gymnasiums. Dunkelblaues Quadrat mit weißem Schriftzug des Schulnamens in der linken oberen Ecke. Silhouette der Burg Nanstein im Anschnitt unten rechts.

Die DDR und ihre Absurdität

Jörg Rettig erzählt vom Alltag und vom Studium in der DDR — 29.06.2016

Ein Zeitzeugengespräch mit Jörg Rettig im Ethikunterrricht
von Maurice Dupont
 
Die Geschichte unseres eigenen Landes verfolgt uns Deutsche immer wieder. Manchmal sind es uninformierte, vorurteilbehaftete Bemerkungen von Menschen aus anderen Ländern, schwarzhumoristische Scherze oder Ähnliches, doch zuallererst wird sie ausführlichst in der Schule behandelt. Es wird besonders darauf Wert gelegt, den jungen Menschen die historischen Hintergründe Deutschlands im 20. Jahrhundert darzustellen. Im Ethikunterricht von Achim Jung in der MSS 11 am Sickingen-Gymnasium wurde diesbezüglich die jugendliche Gesellschaft in der DDR und in der Nachwendezeit in den Vordergrund gestellt. Um diesem Thema einen für die Schüler interessen- und realitätsbezogenen Beigeschmack zu geben, wurde der Deutsch- und Geschichtslehrer Jörg Rettig, der in der DDR aufgewachsen ist, als Zeitzeuge in den Unterricht eingeladen, um uns von seinen Erlebnissen und seiner persönlichen Sichtweise auf die Politik, die Gesellschaft und die Mittel des Ostens vor der Wende zu berichten und um unsere an den vorher gelernten Stoff angelehnte Fragen zu beantworten. Jörg Rettig war zum Zeitpunkt der Wende (1989) 28 Jahre alt und absolvierte währenddessen sein Studium, also verbrachte er sein bisheriges halbes Leben lang in der DDR. Schwerpunktmäßig handelten seine Erzählungen von der Erfahrung mit der Absurdität und Willkür des Systems. In seiner Schulzeit fühlte er sich nie unterdrückt. Es nahm alles so seinen Lauf, den man vor allem in diesem Alter schlichtweg nie hinterfragt. Bei Jugendlichen waren die Strukturen der FDJ nicht nur in der Organisation selbst, sondern auch im Schulwesen allgegenwärtig. Ein striktes System und ideologisierte Veranstaltungen prägten den Alltag. Beispielsweise wurden des Öfteren Altstoffsammlungen durchgeführt, deren Gewinne an Kinderheime oder von „Imperialisten“ unterdrückte Familien gespendet wurden. Außerdem wurden die Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, Briefkontakte zu russischen Schülern zu pflegen, deren Notwendigkeit und Funktionalität weit von einer Idealvorstellung entfernt war. Im Hintergrund wurden Schülerinnen und Schüler aber immer manipuliert. Die Ideologie, ihren Geist schon früh in eine politische Richtung zu drängen, ohne dass ein Bewusstsein davon vorhanden war, wurde schon im Schulfach „Staatsbürgerkunde“ vorbereitet, in dem russische und marxistische Lieder gesungen wurden und Ähnliches. Um die zweckpolitische Ausnutzung zu vertuschen, wurden die Jugendlichen durch Wettbewerbe und die Förderung von gegenseitiger Konkurrenz angespornt und abgelenkt, denn es wurden zum Beispiel denjenigen Schülerinnen und Schülern, die am meisten gespendet hatten, Preise verliehen. Es gab auch innerhalb der Klassen FDJ-ähnliche Institutionen, in denen die Schülerinnen und Schüler auch in leitende Ämter gewählt werden konnten. Allerdings wurde es eher als Strafe angesehen, wenn man denn gewählt wurde. Kamerad Rettig war im Zuge dessen mehrmals Leiter für Agitation und Propaganda und einmal auch FDJ-Sekretär. Als er aber mit auffällig steigender Häufigkeit teilweise den Inhalt von Westfernsehen mit Klassenkameraden geteilt hatte, wurde er in einer FDJ-Sitzung seines Amtes enthoben. Zwar fühlte er sich dadurch von dieser Pflicht befreit, doch war der Prozess, welcher quasi einer Gerichtsverhandlung glich, eine pure Bloßstellung seiner Person. Noch absurder wurde es, als er während seiner Zeit in der Armee drei Tage ins Gefängnis musste, weil er mehrmals dabei erwischt wurde, Westradio zu hören. Menschen, die auch nur im Geringsten etwas mit dem Westen zu tun hatten, wurden also in aller Willkür wie Kriminelle behandelt und teilweise auch als solche bezeichnet. Erst später wurde das politische Bewusstsein Jörg Rettigs geweckt, auch wenn es nur unterschwellig war. Seine Familie wurde aufgrund politischer Aktivitäten seines Vaters in der Ost-CDU von der Stasi überwacht. Seine Nachbarn waren stets Informanten und selbst das Telefon wurde angezapft. Auch in seinem zuerst erlernten Beruf als Autoschlosser arbeitete er in einem von der Stasi kontrollierten Bereich, in dem hauptsächlich ausländische Autos repariert wurden. Irgendwann befragten ihn Polizisten, die ihm ein Foto zeigten, auf dem er angeblich nachts eine DDR-Fahne verbrannt haben sollte. Obwohl er sich auf dem Foto wiedererkannte, hat er so etwas nie getan. Da er in besagter Nacht aber wirklich nicht zu Hause war, gaben er und sein Vater ein falsches Alibi an, was ihn vor weiteren Unannehmlichkeiten bewahren konnte. Trotzdem war es so, als hätte man ihm etwas anhängen wollen, auch wenn Jörg Rettig bis heute nicht weiß, wie dieses Foto zustande kam. Im Anschluss an diese Ereignisse näherte sich Jörg Rettig immer mehr der Kirche an und nahm Kontakt zu einer Gemeinde auf. Diese hatte vor, eine Antikriegsausstellung zu veranstalten, weswegen Jörg Rettig Bilder aus Berlin holen sollte. Bevor er die Bilder aber abgeben konnte, wurde er abgefangen, er sollte die Bilder vorerst verstecken oder wieder zurückbringen. Einige Mitglieder der Gemeinde wurden nämlich verhaftet. Doch wieso sollte eine Antikriegsausstellung vom Staat nicht toleriert werden, wenn doch genau das die Leitdevise allen Handelns war? Aber die staatliche Kontrolle fehlte. Das Vorhaben wurde nicht von der SED geleitet, also war es illegal. Die Verordnungen in der DDR waren weitgehend undebattiert, also war jedem selbst überlassen, was er damit machte. Als GST-Mitglied (GST = die paramilitärische DDR-Jugendorganisation Gesellschaft für Sport und Technik) konnte man damals den Führerschein kostenlos machen, also ergriff Jörg Rettig diese Chance und schloss sich dieser Jugendorganisation an. Das zeigt recht deutlich, inwiefern ein kaputtes System die Menschen zum Opportunismus führte. Diese Art von Revolte kam auch bei seinem Rauswurf aus der GST zum Vorschein, als er die Frage „Ist das unsere Aufgabe?“ gestellt hatte, als es darum ging, bei einem Funktionär Renovierungen durchzuführen. Jegliches Hinterfragen von irgendetwas war in der DDR scheinbar strengstens verboten. Wer allerdings noch offener und mit mehr Überzeugung revoltierte, wurde im wahrsten Sinne des Wortes unschädlich gemacht. So verschwand ein solcher rebellischer, eigentlich ganz normaler Mann aus Jörg Rettigs Arbeitertheater, bei dem er als Schauspieler mitwirkte, eines Tages einfach und war wahrscheinlich im Gefängnis. Als er ihn über ein Jahr später wiedersah, hatte dieser sich seiner Ansicht nach extrem verändert. Auf einmal war er ein kleinlauter Geselle, der auch nicht über irgendwelche Geschehnisse im Gefängnis sprechen wollte.
Die meisten Menschen reagierten auf die politische Maßregelung und Unterdrückung, indem sie sich separierten und zurückzogen. Die Menschen entwickelten ein doppeltes Bewusstsein und trennten streng zwischen der Ideologie und dem eigenen Lebensbereich. Man sagte und tat, was von einem erwartet wurde, wenn es zum Beispiel darum ging zu einem feierlichen Anlass die Fahne aus dem Fenster zu hängen, aber das bedeutete nicht, dass man dadurch auch ein Verfechter der Staatsideologie war. Wer sich dagegen nicht anpasste, wurde von den Organen des Staates, insbesondere der Staatssicherheit (Stasi) überwacht und verfolgt. Wie die politische Verfolgung war auch die politische Kontrolle Alltag in allen Lebenssituationen. Selbst im oben genannten Arbeitertheater wurden die meisten Stücke abgeändert und politisiert, wenn sie nicht den Vorstellungen der Stasi entsprachen. Es wurden sogar politische Figuren dazu erfunden, wenn man dem Stück keine politische Aussage entnehmen konnte. Auch wenn die Wende schon fast 27 Jahre hinter uns liegt, ist es wichtig, das Wissen über die eigene Geschichte zu bewahren und stets weiterzugeben. Jörg Rettig als Zeitzeuge akzentuierte die Notwendigkeit des historischen Bewusstseins eines jeden Menschen, so dass man sich stets daran erinnern kann, wie es ist, in einem Staat zu leben, in dem die Freiheit und die Menschenrechte nicht geachtet werden. Erneut wird in den Erlebnissen dieses Mannes herausgestellt, wie ein falscher, willkürlicher politischer und wirtschaftlicher Leitfaden und die absurde Ideologie eines totalen Überwachungsstaates nicht nur Unzufriedenheit bei den Bürgern schafft, sondern den eigenen Staat bis in seinen Grundfesten erschüttert und selbst zerstört.