Das Logo des Sickingen-Gymnasiums. Dunkelblaues Quadrat mit weißem Schriftzug des Schulnamens in der linken oberen Ecke. Silhouette der Burg Nanstein im Anschnitt unten rechts.

Wir sind 150 Jahre alt

Festrede von Achim Jung beim Festakt zum Schuljubliäum in der Stadthalle Landstuhl — 19.11.2023

Sehr geehrte Ehrengäste, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Eltern sehr geehrte Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Ehemalige und Freunde des Sickingen-Gymnasiums.

Wir sind 150 Jahre alt.
1873 wurde unsere Schule gegründet. Alle, die dabei waren, sind allerdings schon lange tot. In 150 Jahren wird unsere Schule ihr 300. Jubiläum feiern. Dann werden wir alle auch schon lange tot sein. Mit dieser bestürzenden Feststellung kann meine Rede an dieser Stelle auch schon enden.
Muss sie aber nicht.
Wenn wir ein wenig darüber nachdenken, bemerken wir, dass es uns auch noch im Jahr 2173 geben wird, dass nämlich etwas von uns bleibt. Wenn es dann noch eine Schule in Landstuhl gibt – und auch, wenn nicht. Denn in der Regel lebt niemand so, als ob alles, was man im Leben anstrebt, was man verwirklicht oder erst nur plant oder erträumt, komplett mit allem, was existiert, mit dem eigenen Tod verschwindet. Im Gegenteil handeln und denken wir auch über den eigenen Tod hinaus. Und vieles, was wir tun, denken und planen, besteht und wirkt über unseren eigenen Tod weiter. Und wir gehen eigentlich immer irgendwie davon aus, dass das so ist und sein wird.
Auch bis in das Jahr 2173.
Andererseits wirkt die Vergangenheit bis in die Gegenwart fort, auch das Leben und Wirken früherer Generationen in unserer Schule hat weiter Einfluss auf uns.
Deshalb sind wir ja jetzt 150 Jahre alt, weil diejenigen, die vor uns die Schule mit Leben erfüllt haben, in gewisser Weise in der Schule und in uns noch weiterleben. Ihr Wirken hat im positiven, wie leider auch im negativen Sinn dazu beigetragen, dass die Schule das ist, was sie heute ist. Das Schuljubiläum führt uns heute vor Augen, über welche Zeiträume das Wirken von Menschen weiter besteht, fortwirkt und uns in seinem Wirken aus der Vergangenheit anspricht und zwar so, dass es uns gelegentlich zum Handeln geradezu verpflichten kann.

Wir sind 150 Jahre alt.
Im Schuljahr 1873/74 erschien bereits ein erster gedruckter Jahresbericht, der über die Personen und die Ereignisse an der Schule informierte. Bis auf wenige Ausnahmen gab es seither in jedem einzelnen Schuljahr einen solchen Jahresbericht an unserer Schule, das ist etwas, was es in dieser Form an den meisten Schulen nicht gibt. Und jedes Jahr erhält die Schulgemeinschaft einen neuen Jahresbericht, der immer noch bunter, schöner und umfänglicher ist als der vorherige. Diese von vielen Kolleginnen und Kollegen in der Vergangenheit gepflegte Tradition ist ein schönes positives Beispiel dafür, wie das Handeln von Menschen, die vor uns gelebt haben und die wir zumeist niemals kennengelernt haben, uns dazu verpflichtet, dieses Handeln fortzusetzen und uns auch im Sinn unserer Vorfahren für die Schulgemeinschaft zu engagieren.

Wir sind 150 Jahre alt.
Dass es ebenfalls ein Fortwirken negativer und böser Momente früheren Handelns und Denkens gibt, zeigt sich dagegen beispielsweise in der Tatsache, dass das Schulgebäude so eingerichtet wurde, dass es Schülerinnen und Schülern mit körperlichen Einschränkungen bisher sehr erschwert oder unmöglich gemacht worden ist, das Sickingen-Gymnasium zu besuchen. Das Schulgebäude ist insoweit ein Zeugnis eines inhumanen Menschenbilds aus der Vergangenheit, aufgrund dessen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen diskriminiert und rechtlich benachteiligt wurden. Dieses diskriminierende Menschenbild bestimmte durch die bauliche Gestaltung des Gebäudes Generationen in ihrem Leben und Handeln und durchkreuzte sicher auch manche Lebensentwürfe. Durch die Generalsanierung wird dieser Missstand nun hoffentlich bald behoben sein. Das Ergebnis der Umgestaltung der Schule wird insoweit auch zukünftige Generationen dann zu einem humanen Menschenbild und zur Achtung der Menschenwürde und der Grundrechte verpflichten.
Tatsächlich wirkt also jede Generation und auch jeder Mensch mit dem eigenen Denken, Handeln und Planen über sein eigenes Leben hinaus in die Zukunft. Jeder nimmt auch irgendwie an, dass das, was er tut, über seine eigene Lebenszeit hinaus wirkt, sonst würden einem viele Vorhaben und Projekte von vorneherein sinnlos und überflüssig erscheinen.

Wir werden im Jahr 2173 also 300 Jahre alt sein.
Das Bewusstsein der Verantwortung für die zukünftig lebenden Generationen wird heute zunehmend ausgeprägter: der Klimawandel, die Auswirkungen von politischem und religiösem Extremismus, Pandemien und viele andere mögliche Krisen bedrohen das Leben unserer zukünftigen Schülerinnen und Schüler im Jahr 2173.

Ihre .... Unsere Zukunft sieht düster aus.

1873 ahnte man davon noch gar nichts. Es war die sogenannte „Gründerzeit“ angebrochen, erhebliche Mengen an nach dem Deutsch-Französischen Krieg von Frankreich erpressten Goldes belebte die Wirtschaft im gerade mit viel Euphorie im Versailler Spiegelsaal neu gegründeten Deutschen Reich. Stattliche und glänzende Bauwerke wurden errichtet, von denen die meisten die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs nicht überstanden haben. Es war die Zeit eines unbedingten Fortschrittsglaubens und eines zunehmend aggressiven Nationalismus. Viele Menschen sahen und planten in der Folgezeit von 1873 ihre eigene Zukunft allerdings durch ideologische Filter: Ihr Denken war bestimmt durch ideologisch geprägte Begriffe, wie Nation, Kolonialismus, Rassenlehre, Kommunismus, Nationalsozialismus usw.. Es ging vielen Menschen entweder um die glückliche Zukunft der Nation, der arischen Rasse, der Arbeiterklasse oder um die Zielsetzungen anderer jeweils als einzig wahr und gültig betrachteter Ideologien.
Aus der Perspektive und durch den Filter eines solchen ideologischen Fortschrittsdenkens sah die Zukunft für die Menschen im Jahr 1873 rosig aus.
In Wirklichkeit aber mündete dieses Denken in bis heute nachwirkende Katastrophen, Krisen und Kriege, die Abermillionen das Leben gekostet haben. Der ideologische Glaube an einen gegen Bedrohungen auch mit brutaler Gewalt durchzusetzenden Fortschritt, der je nach Ideologie unterschiedliche und antagonistische Zielsetzungen verfolgte, hatte in Deutschland und überall auf der Welt sehr verheerende Auswirkungen. Es gab unter anderem zwei furchtbare Weltkriege, die unendlich viel furchtbarer und verheerender waren als alles, was wir in der Schule darüber vermitteln können. Die Zukunft der Nation verlangte viele Opfer, viele Verbrechen, viele Tote. Und die Toten sollten wirklich tot und vergessen sein: Im 1000jährigen Reich der Nazis sollten die deutschen Herrenmenschen über Sklaven herrschen und es sollte sich 1000 Jahre lang nie wieder etwas ändern, so dass es auf das Leben und Wirken der Einzelnen nicht mehr ankommen sollte.
Es gab dann glücklicherweise doch auch viele Menschen, die an uns, die heute Lebenden, gedacht haben und die sich, oft auch unter Einsatz und Verlust ihres Lebens, dafür eingesetzt haben, dass sich für uns am Ende doch alles zum Besseren geändert hat und sich für jede und jeden von uns auch weiter ändern kann. Wir haben es nun wirklich selbst in der Hand, uns mit unserem Denken und Handeln für ein freiheitliches, demokratisches und menschliches Leben in der Zukunft einzusetzen.

Wir sind im Jahr 2173 300 Jahre alt.
Wenn wir an unsere Schülerinnen und Schüler in der Zukunft denken, empfinden wir heute, nach allem, was wir aus der Geschichte wissen, eine weit größere und eine verbindlichere Verpflichtung, uns mit Blick auf die Zukunft für Menschenrechte und Bildung, für Demokratie, Freiheit und Vernunft einzusetzen als dies frühere Generationen schon empfanden. Antidemokratische Bestrebungen und die neuen Ausbrüche von rassistischer, antisemitischer und extremistischer Gewalt überall in der Welt, und nicht zuletzt in Deutschland, lassen uns diese Verpflichtung nur umso stärker empfinden.
Für die Menschen im Jahr 1873 sah die Zukunft rosig aus, uns erscheint sie heute eher düster und bedrohlich.
Vielleicht ist diese düstere Sicht der Zukunft am Ende eine bessere, denn nun empfinden wir eine große Sorge um das Schicksal unserer Nachgeborenen und denken daran, was mit den Schülerinnen und Schülern im Jahr 2173 sein wird, was ihnen widerfahren könnte, wenn wir jetzt nicht daran denken würden, dass wir in ihnen weiterleben werden.

Wir sind heute 150 Jahre alt. – Wir werden im Jahr 2173 300 Jahre alt sein.
Es stellt sich also die Frage: Wie wird sich unser Handeln auf die Realität des Lebens der zukünftigen Schülerinnen und Schüler im Positiven und im Negativen auswirken?
1873 hatte man ein solches Bewusstsein einer ethisch begründeten Verantwortung für die Zukunft noch nicht. Wir wissen heute dagegen, dass das, was wir heute tun, was wir heute denken, was wir heute beabsichtigen, die Welt der Menschen im Jahr 2173 beeinflussen wird. Wir sehen bereits heute, dass das Leben und die Existenz der Menschen über alle Generationen und über alle Grenzen hinweg verbunden sind. Die globale Verflechtung der Leben aller Menschen auf der Erde wurde mit Corona und dem Beginn des Zeitalters der Pandemien jedem schmerzhaft deutlich, genauso wie auch durch die weltweit schon erkennbaren Folgen des Klimawandels.
Können wir diesem Wissen, das wir, anders als unsere Vorfahren, nun so eindringlich haben, in Zukunft gerecht werden?
Was werden die Jubiläumsgäste, die Schülerinnen und Schüler, die Eltern, die Kolleginnen und Kollegen in 150 Jahren, im Jahr 2173, über uns denken? Das ist schwer vorherzusagen. Voraussichtlich wird die Generalsanierung der Schule dann ja vermutlich abgeschlossen sein, die Schule wird sogar dann bestimmt nach weiteren Generalsanierungen und Neubauten ein noch einmal ganz anderes Gesicht und vielleicht auch, wie am Anfang, einen anderen Namen haben. Baulich wird sie aufgrund dann geltender ganz anderer pädagogischer Theorien und Konzeptionen sicherlich auch ganz anders gestaltet sein als dies in den letzten 150 Jahren der Fall war. Denn nach der über Generationen wirksamen Forderung des englischen Philosophen Jeremy Bentham, sollten sich die Schulen bisher in ihrem Aufbau an der baulichen Gestaltung von Gefängnissen orientieren, weil dies zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung am zweckdienlichsten sei.
Was wird Positives, was wird Negatives von uns bleiben? Es liegt an uns, die Weichen dafür zu stellen, dass das Sickingen-Gymnasium auch in 150 Jahren eine lebendige, eine menschliche, eine gute Schule bleibt, an der das Ideal der Bildung, nämlich dass Menschen entwicklungs- und bildungsfähig sind, dass sie sich ändern können, weiter hochgeschätzt wird und aus ihr weiter frei denkende, fähige und starke Persönlichkeiten hervorgehen werden.
Es ist an Ihnen, an uns, an allen, die in der Schulgemeinschaft und am Schulleben jetzt mitwirken und in Zukunft mitwirken werden, im Bewusstsein einer langen vergangenen und hoffentlich einer noch längeren zukünftigen Tradition zur Weiterentwicklung und zum weiteren Erfolg unserer Schule beizutragen.

Bilder der FotoAG: Ben Schulz, Marvin Prien, T. Lieser